INFORMATION : Lehrerin schwärzt Schüler als Extremisten an
19.01.2011 14:51 (9473 x gelesen)
15. Januar 2011, 12:03 Uhr
Niedersachsen
Von Anna Reimann und Oliver Trenkamp
Eine Ethik-Lehrerin aus Niedersachsen warf einem Schüler Kontakt zu einer "extremistisch-islamischen Gruppe" vor - in einem anonymen Brief an die Polizei. Mit dem falschen Verdacht löste die Pädagogin eine Hysterie aus, die jetzt sogar den Landtag beschäftigt.
Drei kurze Zeilen genügten, um Ermittlungen "zum Zwecke der Gefahrenabwehr" auszulösen. Drei Zeilen ohne Anrede, Absender, Unterschrift. Eingegangen in der Polizeidirektion Garbsen, Niedersachsen. Unter der Überschrift "Hinweis" heißt es in dem Schreiben, der Elftklässler Yasin C. habe "Kontakt zu einer extremistisch-islamischen Gruppe".
Ein islamischer Extremist in einer niedersächsischen Kleinstadt? Ein Radikaler in der elften Klasse der Integrierten Gesamtschule Garbsen? Die Polizei ermittelte und stellte schnell fest: nichts dran an den Vorwürfen.
Die Beamten fanden aber auch heraus, woher der anonyme Brief stammte: Geschrieben hatte ihn die Ethik-Lehrerin des Schülers.
Jetzt, mit zwei Jahren Verspätung, wird der Vorgang in Niedersachsen zum Politikum und beschäftigt sogar den Landtag. Eine Abgeordnete erfuhr über Umwege von der Geschichte. Die rot-grüne Opposition wirft Innenminister Uwe Schünemann (CDU) nun vor, indirekt an dem Vorgang mitschuld zu sein: Er schüre Ängste gegen Muslime. "Jeder guckt jeden schief an, eben auch in der Lehrerschaft", sagt etwa die Grünen-Abgeordnete Filiz Polat.
Die Frage, die sich in Niedersachsen nun viele stellen: Wie konnte es überhaupt so weit kommen, dass die Lehrerin den eigenen Schüler beschuldigt? Was ist geschehen? Zu erzählen ist die Geschichte einer Hysterie.
Hysterie-Stufe Eins - Eine Klassenarbeit mit Folgen
Im Frühling 2008 schreibt Yasin C. eine Klausur zum Thema "Das Weltethos". Es geht darum, welche Werte alle Weltreligionen gemein haben. Etwas umständlich formuliert er, das Weltethos sei "zu spät" bei den Menschen angekommen. Und: Christen sei nicht beizubringen, islamische Werte anzuerkennen.
Diese Worte alarmieren seine Ethik-Lehrerin. Sie spricht ihn an, will wissen, was er meint. Über ihren Verdacht, der Junge könnte Kontakt zu Extremisten haben, spricht sie nach Angaben des Schülers allerdings nicht - nicht mit ihm, nicht mit ihren Kollegen, nicht mit der Schulleitung.
Yasin C. ist kein guter Schüler, er rechnet damals schon nicht mehr damit, versetzt zu werden. Er kommt nur selten zur Schule. Die Lehrerin sieht auch das als Hinweis. Im September schickt sie die anonymen Zeilen an die Polizei. Aus dem Schreiben spricht kein Zweifel: "Yasin C. (...) hat Kontakt zu einer extremistisch-islamischen Gruppe." Und einen pädagogischen Rat gibt sie den Beamten auch: "Wenn ihm Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht wird, würde er vielleicht reden."
Yasins Klausur bewertet die Lehrerin mit "mangelhaft", einer Fünf.
Hysterie-Stufe Zwei - Ermittlungen gegen den Schüler
Der Vorgang hat jetzt die Schule verlassen, die Auseinandersetzung um eine Klassenarbeit ist gewachsen. Zwar nicht zu einem offiziellen Ermittlungsverfahren, wie die Polizei betont, wohl aber zu Ermittlungen "zum Zwecke der Gefahrenabwehr", sagt ein Sprecher. "Die Polizei ist dem Hinweis acht Wochen lang nachgegangen."
Als Yasin C. erfährt, dass in seinem Umfeld recherchiert worden sei, ist er empört. Mitbekommen habe er aber vorher nichts. Er sagt, die Beamten hätten herausgefunden, dass er in einem Freizeitheim Bewerbungen geschrieben hat. "Ich weiß nicht, in welche Richtung sie noch ermittelt haben."
Die Sache wird an der Schule bekannt. Yasin C. sagt, auf dem Hof würden ihn Mitschüler jetzt als "Terrorist" beschimpfen.
Hysterie-Stufe Drei - Ermittlungen gegen die Lehrerin
Der Schüler will, dass seine Lehrerin bestraft wird für ihre Verdächtigung. "Mit Terrorismus ist nicht zu spaßen", sagt er. Seine schulische Motivation habe nach dem Vorfall noch mehr gelitten, auch deshalb habe er schließlich, im Dezember 2008, die Schule abgebrochen. Seitdem schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch.
Er erstattet Anzeige wegen Beleidigung, fühlt sich von der Pädagogin verleumdet. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren allerdings ein, mangels Tatverdacht. Die Landesschulbehörde wird ebenfalls eingeschaltet und leitet im Sommer 2009 ein Disziplinarverfahren ein. Bis heute gibt es kein Ergebnis.
An der Schule wundern sich die Kollegen über die ganze Angelegenheit, die Lehrerin arbeitet schon seit 1973 dort, unterrichtet vor allem Mathematik und Ethik. Als Islam-Phobikerin gilt sie nicht, im Gegenteil. Sie ist bekannt dafür, dass sie sich für den interreligiösen Dialog einsetzt, hat promoviert, leitet einen Fachverband.
Hysterie-Stufe Vier - Die Politik entdeckt das Thema
Bei einem Fließbandjob lernt Yasin C. eine Studentin kennen, Mitglied bei den Grünen. Sie ist empört von seiner Geschichte und berichtet davon der Landtagsabgeordneten Polat, migrationspolitische Sprecherin der Grünen.
"Ich konnte erst gar nicht glauben, die ganze Geschichte schien sehr skurril", sagte Polat SPIEGEL ONLINE. Im Herbst 2010 habe sie den Schüler dann in die Grünen-Fraktion eingeladen.
Kurz vor Weihnachten übergibt Yasin C. seine Unterlagen der Abgeordneten, auch die Klausur. Polat und ihre Kollegen wollen eine Anfrage an die Landesregierung richten, um zu klären, ob die Schulaufsicht versagt hat und ob die Ermittlungen rechtmäßig waren. Aber nicht nur das: Die Grüne stellt einen Zusammenhang zur Landesregierung her. Sie will auch die Rolle des CDU-Innenminister Schünemann bei dem Vorgang klären lassen.
Die Auseindersetzung um eine Klassenarbeit hat die große Politik erreicht.
Hysterie-Stufe Fünf - Die Presse entdeckt das Thema
Die "Hannoversche Allgemeine" schreibt im Januar 2011 von einem Schüler "unter Terrorverdacht". Auch andere Lokalzeitungen berichten über den Fall. Der anonyme Brief hat es in die Schlagzeilen geschafft. Fernsehsender rufen bei Yasin C. an.
Weitere Politiker melden sich zu Wort. So verlangt auch der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Aufklärung, Klaus-Peter Bachmann: "Der öffentliche Vorwurf, dass der Schüler observiert wurde, steht - jetzt muss es im Landtag eine Antwort darauf geben." Auch er sieht die Geschichte als Ergebnis der Politik des Innenministers. "Schünemann ist ein Zuspitzer, das wirkt irgendwann - er verbreitet einen bestimmten Geist der Politik, es ist kein Wunder, wenn die nachgeordneten Behörden überziehen."
In eine ähnliche Richtung argumentiert sogar die Lehrerin. Über ihren Anwalt lässt sie mitteilen, die Politik habe die Bürger aufgefordert, "Verdachtsmomente den Sicherheitsbehörden zu melden". Sie betont aber: Von Terrorismus sei in ihrem Anschwärzbrief mit keinem Wort die Rede.
So ziemlich jeder, der mit der Sache zu tun hat, verschickt mittlerweile Pressemitteilungen und Stellungnahmen, selbst der Schülerrat der Gesamtschule Garbsen: Die Schule sei tolerant und weltoffen.
Yasin C. hat gerade keinen Job. Er denkt darüber nach, das Fach-Abitur nachzuholen. Aber erstmal muss er noch ein paar Interviews geben.
URL: http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,739495,00.html
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